Ob Stuttgart 21 ein sinnvolles Projekt ist, darüber kann man streiten. Durchaus gibt es verkehrstechnische Argumente für den Bau. Ob man für die Fahrzeitverkürzung der ICEs nun unbedingt kilometerlange Tunnel durch eine Großstadt bohren muss, bleibt angesichts der Kosten und Risiken allerdings fraglich, zumal der Zeitpunkt im Hinblick auf Finanzkrise und Hartz 4 recht fragwürdig ist. Die Gesamtkosten sind kaum abschätzbar, sogar der Bundesrechnungshof sieht Mehrkosten im Milliardenbereich. Signale im Tunnel hat man aus Platzgründen erstmal garnicht vorgesehen, wozu auch, es gibt ja die LZB. Blöd nur, dass kein Regionalzug damit ausgerüstet ist.
Worüber man aber garnicht streiten sollte, ist die Art und Weise, wie der Staat hier vorgeht. Offziell sei der Bau demokratisch legitimiert, so pflegt man zu sagen. Dass dabei die Polizei mit vermummten Schlägertrupps auf Renter und Minderjährige eindrischt und mit Wasserwerfern mehrere Augen ausschießt, ist nicht hinnehmbar, sondern schwere Körperverletzung.
Folgen für die Schläger in Polizeiuniform hat das selten, wenn überhaupt, wird ein Beamter auf eine andere Dienststelle versetzt. Da ist zum einen das Problem mit der Identifizierung, die bei Vermummung mit Helm und Sturmhaube naturgemäß schwierig ist. Und selbst wenn es Videoaufnahmen gibt, wird ein Polizist nahezu nie verurteilt.
In Stuttgart hat die Polizei einen schwerwiegenden Fehler gemacht. Während die Klientel der polizeilichen Schlägertrupps bisher eher in Fußballfankreisen und linksgerichteten Demonstranten zu suchen waren, hat man diesmal die bürgerliche Mitte getroffen: Schüler auf einer angemeldeten Schülerdemo, ältere Leute, die sich teilweise zufällig im Schlosspark aufhielten, wurden Opfer von Prügelattacken und Wasserwerfern. Der ältere Herr aus dem dpa-Foto, der sich schützend vor die Jugendlichen stellte, wird niemals mehr ein Buch lesen oder am Straßenverkehr teilnehmen können.
Erst jetzt scheint der deutsche Michel zu begreifen, was er sich durch seine Wegguckerei eingebrockt hat. Wenn die Opfer der polizeilichen Maßnahmen bisher noch als "linke Spinner" abgetan werden konnten, so dürfte es nun allen klar sein, das etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Wer glaubt, dass die Polizei zum ersten Mal überreagiert hat, den empfehle ich den "Grundrechtereport 2008" mit Bericht vom G8-Treffen in Heiligendamm. Wer von den Inhaftierungen ohne richterliche Zustimmungen liest, mag glauben, dass es um Länder wie China oder den Iran geht. Auch damals wurde einem Demonstranten das Auge weggeschossen - mit einem Wasserwerfer.
- Demonstrant bleibt auf einem Auge blind
- Ein bedauerlicher Unfall
- Ministerpräsident Mappus: "Die Polizeiführung hat in den vergangenen Wochen extremst deeskalierend und verantwortungsvoll gehandelt"
- Traurig, traurig
Viele Dinge kann man nicht rückgängig machen, ein Augenlicht bleibt für immer verschwunden. Bei solch schockierenden Bildern müsste es doch Menschen geben, die sich verantwortlich fühlen? Diese finden sich leider nicht leicht. Die Polizei spricht von einem fehlerfreien Einsatz, der Innenminister kann keine Fehler bei dem Beamten erkennen. Kein Rücktritt, nicht mal ein einziges Wort der Entschuldigung.
Auch bei der Polizei nimmt man solche Verletzungen in Kauf. Nach der Eskalation im Stuttgarter Schlossgarten sieht man offenbar keinen Bedarf, die Strategie zu überdenken. Während "Deeskalation" ein bei Polizeisprechern gern benutztes Wort ist, erhält der Staat demnächst 78 neue Wasserwerfer. Noch besser gepanzert mit - man glaubt es kaum - noch stärkerem Wasserdruck. Beim Lesen des Artikels fühlte ich mich an die Zeit bei der Bundeswehr erinnert, in der ich u.a. auch das Geschütz eines Panzers bedient. Aber selbst in diesen jungen Jahren machten wir uns Gedanken darüber, was diese Waffe anrichten kann. Bei der Polizei ist man aber offenbar ganz heiß auf das neue Gerät.
Noch fataler sind die Auswirkungen dieser polizeilichen Übergriffe auf das Ggrundmanifest des deutschen Staates: Die Meinungsfreiheit und - daraus folgernd - die Demonstrationsfreiheit. Wenn das harte Durchgreifen in Schlossgarten eine Nachrichte hat, dann ist es die: "Traut Euch ja nicht auf eine Demonstration, Ihr seht, was Euch passieren kann". Und wenn es auch nur wenige gibt, die nach den Übergriffen sich nicht mehr auf eien Deomonstration trauen, dann rücken wir weiter in Richtung Polizeistaat. Zum Glück ließ sich Stuttgart davon nicht beeindrucken und ging am nächsten Tag mit fast 100.000 Menschen auf die Straße.
Damit nicht genug, die Linie des Staates verhärtet sich weiter: Übergriffe gegen Polizisten sollen härter bestraft werden. Wer dem Link zum Lawblog folgt wird feststellen, das damit keineswegs körperlicher Gewalt gegen Polizisten gemeint ist, denn diese Gewalt (übrigens gegen jeden Mensch) steht bereits per StGB unter Strafe. "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" ist das Zauberwort, mit dem nahezu jeder ohne viel Zutun in die Zelle wandern kann. Die Polizeigewerkschaft möchte sogar jeden Schubser gegen Polizisten mit mindestens 3 Monaten Freiheitsentzug ahnden. Bei der Freiheit-gegen-Angst-Demo in Berlin wurde 2 Demonstranten von Polizeibeamten ins Gesicht geschlagen. Einer davon fand sich recht schnell vor Gericht wieder. Nicht als Zeuge oder Kläger, sondern als Angeklagter. Der andere stand zufällig im Weg. Der "Widerstand gegen Beamte" kann von der Polizei also als Gummiparagraph für alles verwendet werden.
Die ältere Generation hat Respekt vor Polizeibeamten. Die jüngere Generation ist nicht respektlos, nutzt aber die modernen Kommunikationstechniken wie Blogs und Twitter. Und wenn solche Dinge passieren, wie im Stuttgarter Schlossgarten, dann fördert das nicht gerade den Respekt vor eben diesen Beamten und den Politikern, welche diese decken. Das Problem ist also hausgemacht. Denkt mal drüber nach, wenn Ihr das nächste Mal wählen geht ;)